78

Der Sog hierher war plötzlich abgerissen. Sofi stand neben der Statue und wartete auf eine neue Eingebung. Sie ließ ihren Blick über die Gegend unter ihr schweifen. Die Rotunde endete etwa auf ihrer Höhe der Terrasse und schien zum Greifen nah. Unten im Park konnte sie keinen Menschen entdecken. Die erleuchteten Fenster der Häuser auf der anderen Straßenseite spiegelten sich in der schwarzen Fläche des Wasserbassins.

Sie wandte sich um. Die Statue stand an der äußersten Ecke einer kleinen Terrasse, die man mit fünf Schritten durchschreiten konnte. An dieser Ecke trafen die Ost- und Nordseite des viereckigen Plateaus zusammen. Der Boden der Terrasse war mit grobem Granit gepflastert. Die Fugen zwischen den Platten wirkten intakt. Beim Durchblättern der Akte hatte sie vorhin auch die Bilder betrachtet, die Theresa kurz vor dem Gewitter von hier aus gemacht hatte. Wenn auf dem Plateau etwas geschehen wäre, hätte sie etwas merken müssen.

Sie war hier richtig, aber dennoch wusste sie nicht weiter. Sie verließ die Terrasse und lief den sanft ansteigenden Rasen hinauf, der das gesamte Plateau bedeckte. Das Licht der vereinzelten Laternen reichte nicht weit. Die Ulmen hielten alles in Dunkelheit. Als Sofi am Weg ankam, fiel ihr Blick auf das Gebäude am anderen Ende des Plateaus. Es war nur schlecht beleuchtet durch eine Glühbirne über dem Haupteingang, aber dennoch konnte Sofi aus der Entfernung erkennen, dass die Mauern gelb waren. Neben dem Haupttrakt ragte ein Turm in die Dunkelheit empor. Das alte Observatorium. Kam im Krypto nicht der Ausdruck ‚Blitzdeuter‘ in einer grammatischen Form vor, die den Experten nichts sagte? Blitzdeuter schauten doch auch in den Himmel. Und selvanax, eine Ableitung des etruskischen Wortes für ‚Wald‘, hatten Pauline und Finn als ‚Schweden‘ gedeutet. Waldland. Wenn jemand auf diese Weise Ausdrücke für Dinge erfand, die es in seiner Sprache noch nicht gab, welchen Begriff würde er sich dann für ein neuzeitliches Observatorium ausdenken? Dabei war den Etruskern doch die Himmelschau sehr vertraut.

Sofi schlenderte über den Rasen. Der Turm war nicht gerade hoch. Eine Hecke umzäunte den gesamten Komplex der neben dem Haupthaus und dem Turm aus kleineren Anbauten bestand.

Sie schlug den Weg links um das Gebäude ein. Er führte am Steilhang vorbei und schließlich zur Treppe, auf der man hinab in den Park steigen konnte. Auch am Seiteneingang brannte eine Lampe über der Tür. Sofi studierte die Anschläge auf der Tafel neben dem Gartentor. Anscheinend diente das Observatorium aus der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts längst nicht mehr der Forschung sondern nur noch als Museum. Es gab Führungen und Sternennächte. Ein handgeschriebener Zettel klebte schräg über dem Programm: „Liebe Sternenfreunde! Wegen des Umbaus der Bibliothek muss das Trafohäuschen von Stockholms Lokaltrafik in der Gyldéngatan versetzt werden. Wir freuen uns auf ein Wiedersehen am 10. Juni, wenn wir wieder Strom haben.“

Sofi sah sich erstaunt um. Es brannten doch überall Lampen, und sogar durch die Milchglasscheibe in der Tür sah man einen schwachen Schein. Vielleicht war das Trafohaus schon verlegt. Die SL konnte bestimmt nur nachts arbeiten, wenn die U-Bahn nicht fuhr, dachte sie sich. Vielleicht gab es mehrere Stromkreise, oder man hatte bei der Schließung nicht gewusst, wie lange die Arbeiten dauern würden. Aber hatte es am vergangenen Wochenende hier oben Strom gegeben? Seit wann hing der Zettel hier? Sie wusste nicht genau, wo die Gyldéngatan lag, bestimmt auf der anderen Seite des Hügels.

Die Gartenpforte war verschlossen, reichte ihr aber nur bis zur Hüfte. Sie kletterte darüber und legte ihre Hände und das Gesicht an die kleine Scheibe in der Haustür. Tatsächlich! Weit innen im Haus brannte eine Lampe. Sofi klopfte gegen die Scheibe, trat einen Schritt zurück und tastete nach ihrer Waffe. Die trug sie unentwegt, seit das Mädchen am Fenster erschienen war. Nach einer Minute legte sie ein Ohr an die Tür und horchte. Nichts rührte sich. Vielleicht gab es innen eine Nachtbeleuchtung. Sofi umrundete das Gebäude. Hinter den Fenstern an der Südseite war alles dunkel. Sie lief zurück, kletterte über das Tor und schrieb die Telefonnummer von der Tafel ab.

Am Beginn der Treppe hinab in den Park warf sie einen letzten Blick zurück, bevor sie die endlose Folge von Stufen in Angriff nahm. Wie eine Bergstraße wechselte die Treppe immer wieder die Richtung. Auf halber Höhe blieb sie stehen. Das Foto aus dem Jahr 1942, das sie vorhin auf der Tafel im Lesesaal entdeckt hatte, musste von hier aus aufgenommen worden sein. Außer der Leuchtreklame des Hamburgerladens und der Automodelle hatte sich nichts verändert.

Je weiter sie sich vom Plateau entfernte, desto mehr gerieten auch ihre Gedanken wieder in Bewegung. Das Plateau dort oben eignete sich gut für Treffen, viel besser noch als die Bibliothek. Die ganze Zeit war sie dort oben keinem Menschen begegnet, obwohl unter am Sveavägen längst das große Ausgehen am Freitagabend begonnen hatte. Sie sah auf die Uhr. Es war Mitternacht.

Als sie die letzte Kehre erreichte, huschte einige Meter vor ihr ein Tier über den Weg und verschwand im Gebüsch. War das eine Ratte? Sofi hielt kurz inne und eilte dann am Gebüsch vorbei. Sie drehte sich um. Da saß ein Hase mit aufgestellten Ohren am Hang. Nein, ein Kaninchen. Es schaute Sofi interessiert an. Sie trat einen Schritt näher, um es besser sehen zu können. Das Kaninchen hoppelte den Hügel hinauf. Sofi versuchte, es nicht aus den Augen zu verlieren. Als es oben am Grat ankam, erstarrte sie. Am Geländer stand ein Mensch. Sie ließ ihren Blick über den Hang schweifen, als hätte sie die Gestalt gar nicht bemerkt. Nach einigen Sekunden ging sie gelassen weiter. Ihr Abstieg hatte doch nur eine halbe oder ganze Minute gedauert. Wo war die Person so schnell hergekommen? Mit Sicherheit konnte sie Sofi von dort oben gut sehen. Überall auf der Treppe standen in regelmäßigen Abständen Laternen.

Sie durchquerte den Park, ohne sich umzudrehen. Als sie auf der Terrasse die Ecke der Bibliothek erreichte und aus dem Blick der Person verschwand, blieb sie stehen. Sie wagte nicht, um die Ecke zu schielen, ob die Person noch da war, also rannte sie an der Mauer und am Eingang zum Lesesaal vorbei und um die nächste Ecke. Eine kleine Treppe führte hinab zur Odengatan. Sie eilte die Straße hinauf, bis sie die Bibliothek hinter sich gelassen hatte. Gyldéngatan. Sofi bog in die kleine Querstraße ab, ohne das Trafohaus oder eine Baustelle zu entdecken. Nach dreißig Metern endete die Straße vor der Nordseite des Hügels. Eine Treppe führte hinauf. Feuchtes Laub lag auf den Stufen und ließ Sofi zweimal ins Rutschen kommen. Dann erreichte sie das Plateau. Aber diesmal stand sie an einer anderen Ecke, ganz im Osten. Sie zog den Reißverschluss ihrer Jacke zu und arrangierte ihr Haar so, dass es ihr Gesicht als schwarze Fläche verbarg. Sie näherte sich entschlossen dem Observatorium und verschmolz dabei mit der Finsternis, wie sie es in den acht Tagen mit Ermin gelernt hatte.

Die Person am Geländer vor dem Hang war verschwunden. Sofi warf einen Blick hinab, um zu prüfen, ob die Gestalt vielleicht auch die Treppe genommen hatte oder unten im Park herumlief. Es wunderte sie nicht, dass sie dort niemanden entdeckte. Das hatte sie erwartet. Sie schwang ein Bein über das Geländer und kletterte darüber. Dahinter fiel der Hang nicht unmittelbar ab. Es gab einen ellenbreiten Streifen, auf dem sie sich bewegen und am Geländer entlanghangeln konnte, bis sie von Gebüschen getarnt den Eingang des Gebäudes direkt vor sich hatte.

Ihr stand der Mund offen. Das schwache Licht im Inneren war erloschen. Also musste zuvor jemand im Haus gewesen sein. Also hatte sie es nicht mit einem zufälligen Spaziergänger zu tun. Sie wiederholte alles in ihrem Kopf: Sie hatte vier Minuten lang an der Tür gestanden und mehrmals geklopft. Die Person musste sie gehört haben, denn kurz darauf erschien sie draußen am Geländer und blickte hinab, ohne sie zurückzurufen. Jetzt brannte innen kein Licht mehr, und von der Gestalt war weit und breit nichts mehr zu sehen.

Von innen drang ein dumpfer Knall nach draußen. Sie duckte sich. Aber es war kein Schuss gewesen, sondern hatte eher danach geklungen, als fiele etwas Großes um. Kurz darauf folgte ein Quietschen.

Sofi musste sich mit der linken Hand am Geländer festhalten, um nicht rücklings den Hang hinabzurollen. Ihre Knie drückten gegen ihre Brust, sie bekam die Pistole kaum aus dem Halfter. Das blasse Licht im Inneren sprang wieder an. Sofi steckte die Pistole in ihre Jackentasche und machte den Fotoauslöser ihres Telefons bereit.

Sie hatte eine Entscheidung getroffen.

Es dauerte, bis etwas geschah. Nach einer Viertelstunde riss jemand die Tür auf. Sofi hatte die verräterisch leuchtende Anzeige ihres Telefons gegen ihre Brust gedrückt und machte vier Fotos. Der Mann sprang über das Gartentor. Dabei erkannte sie ihn. Der Mann vom Schließfach. Und der vermutliche Todesfahrer. Erst jetzt ging ihr auf, dass er sich vielleicht wieder ans Geländer stellen könnte. Dann würde er sie entdecken. Sie steckte das Telefon in die Tasche und griff nach ihrer Pistole, aber der Mann bog nur zwei Meter vor ihr in den Weg ein. In gebückter Haltung bewegte sie sich einen Meter weit nach rechts, damit das Gebüsch sie weiterhin verdeckte, falls er sich umdrehte. Der Kies auf dem Weg knirschte so laut, dass er sie bei ihren Bewegungen nicht hören konnte.

Sie richtete sich auf. Wenn er die Treppe nahm, musste sie zu einem bestimmten Zeitpunkt über das Geländer klettern, sonst konnte er sie von dort unten sehen. Sie machte sich bereit. Aber der Mann betrat die Treppe nicht. Stattdessen verklangen seine Schritte auf dem Kies. Er geht zur anderen Seite, dachte sie, zur Drottninggatan.

Sofi folgte hinterher. Wenn er dort parkte, dann musste sie ihn rechtzeitig einholen. Bald entdeckte sie ihn in der Ferne und verzichtete auf ihre Tarnung hinter Büschen und Sträuchern, um den Abstand zu verringern. Sie musste sich jetzt auf alles verlassen, was Ermin ihr beigebracht hatte. Sich wie ein Spiegel des anderen bewegen, beim Verfolgen ein eigenes Ziel haben.

Auf der anderen Seite des Plateaus gab es keinen Hang. Weil das Viertel dort viel höher lag als der Sveavägen, gelangte man über eine sanft abfallende Wiese zur Straße. Sofi suchte Schutz hinter dem letzten Busch und lauschte. Sie hörte keine Schritte und keinen startenden Motor. Die Situation war heikel, aber sie musste weiter. Die Drottninggatan fiel an diesem Ende mit ziemlichem Schwung wie eine sehr lange Schanze ab. Sie sah den Mann mit hundert Metern Vorsprung laufen. Er machte stramme Schritte. Sofi tat dasselbe und hielt sich dabei dicht an den Hauswänden. Als das Gefälle endete, war sie sich sicher, dass er nicht zu einem geparkten Wagen wollte. Die Drottninggatan war für Autos gesperrt, und so weit brauchte man selbst in Stockholm nicht zu seinem Wagen zu laufen. Sie tippte eine Nachricht für Kjell in ihr Telefon. Jemand musste das Observatorium unter die Lupe nehmen.

03 - Der kopflose Engel
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